Hundert Jahre Niederösterreich - wie es dazu kam

Am 29. Dezember 1921 nahm der Landtag von Niederösterreich-Land das Gesetz zur Bildung eines neuen Bundeslandes Niederösterreich ohne Wien, das sog. Trennungsgesetz, an; auch der Wiener Landtag tat dies. Dahinter verbirgt sich ein mühsamer Prozess: Seit 1920 bestand das Land Niederösterreich aus zwei selbstständigen Teilen: Niederösterreich-Land und Wien. Alle hatten einen eigenen Landtag.

 

Mit den Beschlüssen vom 29.12.1921 löste sich der Landtag von Niederösterreich (für Niederösterreich und Wien) auf. Mit 1. Jänner 1922 trat die neue niederösterreichische Landesverfassung in Kraft. Damit war das neue Land Niederösterreich entstanden. Erster Landeshauptmann war der aus Deutsch-Wagram stammende Christlichsoziale Johann Mayer (1858–1941). Schon bald, nach etwa einem halben Jahr, folgte ihm der in Groß-Enzersdorf gebürtige Karl Buresch (1878–1936) nach; wie Mayer war auch er christlichsozial. Buresch hatte dieses Amt bis 1931 inne, danach war er bis 1932 österreichischer Bundeskanzler. Dann war er wieder bis 1933 niederösterreichischer Landeshauptmann.
Bei der Sitzung des Landtages von Niederösterreich-Land sprach u. a. der Christlichsoziale Dr. Emmerich Czermak; er war von 1921 bis 1938 Abgeordneter zum Niederösterreichischen Landtag und von 1929 bis 1932 Unterrichtsminister. Czermak, so das Neue Wiener Tagblatt vom 30.12.1921, „führte aus, dass dieses Gesetz den Schlussstein einer Entwicklung bilde, die schon vor Jahrzehnten, ja Jahrhunderten begonnen habe. Mit einer gewissen Wehmut nehme man Abschied von Wien, mit dem aber das Land in einem andern Sinne innig verbunden bleibe.“ Der Sozialdemokrat Dr. Karl Renner bemerkte, dass diese neue Regelung „die Erfüllung einer langen Vergangenheit und die Verheißung einer neuen Zukunft bedeute“.

Warum war es dazu gekommen?
Als am Ende des Ersten Weltkrieges die Habsburgermonarchie zerbrach und die neue Republik Österreich entstand, waren die Grenzen noch lange nicht festgelegt. Teile des nördlichen Niederösterreichs waren von tschechoslowakischen Truppen besetzt, Südtirol an Italien, kleine Teile Kärntens und das südliche Drittel der Steiermark an das neue Jugoslawien gefallen.
Jedenfalls bestand die Republik anfänglich nur aus sieben Ländern: Wien war Teil von Niederösterreich, das Burgenland hatte sich noch nicht gebildet und kam erst 1921 zu Österreich.
Konkrete Bevölkerungsstatistiken für das Jahr 1920 gibt es nicht zuletzt wegen dieser Unsicherheiten nicht, aber zieht man die Zahlen der Volkszählung von 1923 – schon mit den endgültigen Grenzen – heran, dann lebten in den sechs Ländern (also ohne das Burgenland) in Österreich etwa 6,25 Millionen Menschen, davon 3,35 Millionen allein in Niederösterreich einschließlich Wien. Das sind 53,5 %.
Die Bundesverfassung des Jahres 1920 legte deshalb nicht nur Wien als Hauptstadt der neuen Republik fest, sondern leitete eine Entwicklung ein, die Wien zu einem eigenen Bundesland machte.
Zu den statistischen Gründen kamen soziale und politische. Wien war großstädtisch – die einzige Großstadt Österreichs, die nach der Angliederung des Burgenlandes noch immer mit ihren 1,9 Millionen Einwohnern etwa 22 % der österreichischen Bevölkerung beherbergte. Niederösterreich war ländlich. Trotz seiner 1,43 Millionen Einwohner hatte die größte Stadt, Sankt Pölten, nur 40.600 Einwohner.
Auch die politischen Gegensätze waren groß. In Wien war die Zeit des „Roten Wiens“ unter dem sozialdemokratischen Bürgermeister Jakob Reumann, Niederösterreich-Land war mehrheitlich christlichsozial. Wegen der Größenverhältnisse war der Landeshauptmann von Niederösterreich (mit Wien) sozialdemokratisch; es war dies Albert Sever. Das Rote Wien sah sich vom konservativen Niederösterreich eingeengt, das christlichsoziale Niederösterreich vom Roten Wien.

Die Trennung
Schon bald nach Schaffung der Bundesverfassung im Oktober 1920 begannen die Verhandlungen über die Trennung Wiens von Niederösterreich.
Schwierig gestaltete sich die Aufteilung der bisher im gemeinsamen Eigentum beider Landesteile stehenden Landesanstalten und Liegenschaften. Knackpunkte stellten die Wasserkraft und die Elektrizitätsanstalten dar, ebenso die Landesversicherungsanstalt und die Landesbahnen, die für die Versorgung Wiens mit Lebensmitteln von großer Bedeutung waren. Ein höchst strittiger Punkt war überdies das niederösterreichische Landhaus in der Herrengasse in Wien.
Im Dezember 1921 fanden die Verhandlungen schließlich einen Abschluss, der im Trennungsgesetz vom 29. Dezember 1921 festgelegt wurde.
Das Gesetz beinhaltet eine Liste zahlreicher Einrichtungen und ihrer Zuteilung zu einem der beiden neu entstehenden Bundesländer. Das Elektrizitätswerk wie auch die Landesversicherungsanstalt wurden in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, an der beide Bundesländer Anteil hatten. Die Landesbahnen wurden den Bundesbahnen eingegliedert.
Die bisher gemeinsamen Landesangestellten wurden von einem der beiden Länder in den Dienst übernommen oder in den Ruhestand versetzt; nur wenige wurden gekündigt.
Auch wertvolle Kulturgüter wurden zwischen Wien und Niederösterreich aufgeteilt. Das Landesmuseum wurde unbeschränktes Eigentum von Niederösterreich. Die Landesbibliothek und das Landesarchiv fielen ebenfalls Niederösterreich zu, Wien erhielt nur wenige Stücke, die für Wien von besonderem Interesse sind. Die Ausgrabungen von Carnuntum und das Heidentor bei Petronell wurden ebenso Eigentum von Niederösterreich. Demgegenüber bekam die Moderne Galerie, die im Landhaus untergebracht war, mit wenigen Ausnahmen Wien.
In der Situation der frühen 1920er Jahre war es nicht denkbar, eine neue niederösterreichische Landeshauptstadt zu schaffen. Den Niederösterreichern war es deshalb wichtig, dass der Sitz der niederösterreichischen Landesregierung und des Landtages im Landhaus in der Wiener Herrengasse verbleiben konnte und das Gebäude an das neue Niederösterreich fiel. Eine Klausel be-stimmte jedoch, dass, falls die niederösterreichische Landesregierung aus dem Landhaus ausziehen sollte, die Hälfte des Hauses an Wien fällt.

Die neue Hauptstadt
In einem gewissen Sinn fand die Entwicklung durch die Schaffung einer neuen niederösterreichischen Hauptstadt einen Abschluss. 1984 warf Landeshauptmann Siegfried Ludwig diese Frage auf, im Juli 1986 bestimmte der Niederösterreichische Landtag Sankt Pölten zur Hauptstadt Niederösterreichs. Dem Beschluss war eine Volksbefragung vorhergegangen, in der sich Sankt Pölten gegen andere niederösterreichische Städte klar durchgesetzt hatte.
Danach erfolgte ein rascher Ausbau der neuen Hauptstadt. Anerkannte Architekten, darunter Hans Hollein und Klaus Kada, entwarfen ein neues Regierungsviertel sowie das Kulturzentrum, zu dem ein Museum und das Festspielhaus gehören. Gustav Peichl errichtete in Sankt Pölten ein neues ORF-Landesstudio. Bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ist Sankt Pölten Sitz eines Bischofs; die große Mehrheit der niederösterreichischen Bevölkerung gehört der katholischen Kirche an. Seit 1998 hat auch die Evangelische Superintendentur ihren Sitz in Sankt Pölten.
In den nächsten Jahren übersiedelten zahlreiche Dienststellen des Landes, 1996 auch die Landesregierung und der Landtag. Der Landtag hielt seine erste Sitzung im neuen Landhaus in Sankt Pöl-ten am 21. Mai 1997 ab.
Damit wurde aber auch die Sonderbestimmung des Trennungsgesetzes 1920 schlagend. Wien konnte Ansprüche auf das Landhaus in der Wiener Herrengasse erheben. Man einigte sich schließlich dahingehend, dass Wien die Nutzungsrechte des nördlichen Teils der Donauinsel, die auf niederösterreichischem Gebiet liegt, eingeräumt wurden, Niederösterreich aber dafür das gesamte Landhaus erhielt. Heute wird es Palais Niederösterreich geheißen.
Die neue niederösterreichische Hauptstadt bedeutete nicht nur einen politischen, sondern auch einen bedeutenden wirtschaftlichen Impuls. Während ab den 1960er Jahren zahlreiche Niederösterreicher nach Wien siedelten, förderte die neue Hauptstadt die Prosperität des Landes; eine Entwicklung, die durch den Fall des Eisernen Vorhangs noch Dynamik erhielt.

Ein großer Rückblick
Es wäre natürlich unsinnig, zu behaupten, Niederösterreich wäre 100 Jahre alt. Dass der Landtag 1996 übersiedelte, verweist auf die 1000-jährige Geschichte (Nieder-)Österreichs. Der Namen 
„Österreich (Ostarrichi)“ ist in einer Urkunde aus dem Jahr 996 erstmals belegt und bezeichnet die Region um Neuhofen an der Ybbs.
Schon zwanzig Jahre zuvor war die ehemalige Awarenmark zu Bayern gekommen. Die Mark sollte ursprünglich das karolingische Reich vor den Awaren im Osten schützen. Aus der Awarenmark wurde später die Marcha Orientalis, die östliche Mark, die beiderseits der Donau von der Enns bis zu March und Leitha reichte, also weite Teile des heutigen Niederösterreichs umfasste. 976 wur-den die Babenberger, die bis Mitte des 13. Jahrhunderts herrschten, mit der Markgrafschaft belehnt.
In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts kam das (Erz-)Herzogtum Österreich dann an die Habsburger. Es umfasste zu dieser Zeit mehr oder weniger das heutige Nieder- und Oberösterreich sowie Wien, das seit dem 12. Jahrhundert Hauptstadt Österreichs ist.
Das (Erz-)Herzogtum Österreich gab als Kernland den Habsburgern („Haus Österreich“) und dem Gesamtstaat seinen Namen: Österreich, unter dem auch die anderen Länder zusammengefaßt werden.
Im 15. Jahrhundert wurde das Erzherzogtum Österreich in Niederösterreich („Österreich unter der Enns“) und Oberösterreich („Österreich ober der Enns“) aufgeteilt, ohne jedoch die Zusammengehörigkeit vollkommen zu lösen. Das geschah offiziell erst viel später: 1861.
Der oberösterreichische Landtag tagte in Linz, die niederösterreichischen Stände kauften 1513 von den Liechtensteinern ein Palais in der Wiener Herrengasse und gestalteten es zum niederös-terreichischen Landhaus um.
Wien wurde unter den Habsburgern nicht nur zur politischen Hauptstadt mit Weltrang, sondern auch wirtschaftliches Zentrum. Die Bahnlinien richteten sich deshalb hierher aus. Das hatte auch Auswirkungen auf Niederösterreich. Die erste Teilstrecke der Kaiser Ferdinands-Nordbahn war die erste Dampfeisenbahn Österreichs überhaupt; sie wurde 1837 zwischen Floridsdorf und Deutsch-Wagram eröffnet. Die Semmeringbahn, eröffnet 1854, war eine technische Meisterleistung und gehört heute zum UNESCO-Kulturerbe.

1922 bis 2022
Im Zuge der europäischen Neugestaltung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges verlor Niederösterreich kleinere Teile an die neue Tschechoslowakei. Im Frieden von Saint Germain wurden die Gebiete, die schon zuvor militärisch besetzt worden waren, auch völkerrechtlich abgetrennt.
Damit schließt sich chronologisch der Kreis: Das Entstehen des neuen Bundeslandes Niederösterreich im Jahr 1922. Heute ist Niederösterreich das flächenmäßig größte Bundesland und der Be-völkerung nach das zweitgrößte. Sankt Pölten ist die repräsentative Hauptstadt und der Bezirk die Heimat von mehr als 132.000 Niederösterreicherinnen und Niederösterreichern.

Karl-Reinhart Trauner
 

web-Wappen_NÖ-original.jpg  Wappen des Landes Niederösterreich
web-Seiten-aus-Trennungsgesetz-1921.jpg  Die erste Seite des Trennungsgesetzes vom 29. Dezember 1921
web-Dr-Emmerich-Czermak4744929_500.jpg  Dr. Emmerich Czermak
web-Jakob_Reumann_1853–1925.jpg  Bürgermeister Jakob Reumann
web-ludwig.jpg  Landeshauptmann Siegfried Ludwig
web-landhaus-wien.jpg  Sitzungssaal im Landhaus in Wien, Herrengasse 13
web-1-Panorama_754x305.jpg  Regierungsviertel in St. Pölten
trauner-karl-reinhart.jpg  Autor DDr. Karl-Reinhart Trauner - hier bei einem ÖKB-Vortrag in Hochwolkersdorf im Jahr 2019 - ist Militärsuperintendent und Historiker. Er ist als evangelischer Landesseelsorger Mitglied im Präsidium des NÖKB.
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